Dieser Kreis ist noch kein Landkreis
Ende des Monats verlässt der medizinische Geschäftsführer Dr. Tobias Hermann das Klinikum Hersfeld-Rotenburg. Im Interview sprachen wir mit ihm über die Veränderungen im kommunalen Klinikverbund, über ein aus seiner Sicht grundsätzliches Problem im Landkreis, Lehren aus der Corona-Pandemie und über die Baustellen der deutschen Krankenhauspolitik.
Herr Dr. Hermann, Sie waren vier Jahre im Klinikum. Was hätten Sie im Nachhinein anders gemacht?
Sicher gibt es Einzelentscheidungen, die ich heute anders getroffen hätte. Aber im Großen und Ganzen würde ich heute Vieles von dem, was wir damals entschieden haben, wieder so entscheiden.
Sie sprechen von der geplanten Verlagerung der Akutmedizin an den Standort Bad Hersfeld.
Genau. Als ich 2017 ins Unternehmen kam, war klar, dass nach dem Erwerb des HKZ eine Zwei-Standort-Politik geplant war. Es war auch richtig, beide Standorte entwickeln zu wollen. In der Folge war aber auch die zweite Kernentscheidung richtig: Wenn man merkt, dass der eingeschlagene Weg nicht zum Ziel führt, muss man den Mut besitzen, nachzujustieren. Das haben wir getan.
Vor der Wahl warnten Sie davor, die Verlagerung des HKZ nach Bad Hersfeld zum Wahlkampfthema zu machen. Rückblickend dürfte der geplante Radikalumbau wahlmitentscheidend gewesen sein. Landrat Dr. Michael Koch, auch Aufsichtsratsvorsitzender und Vorsitzender der Gesellschafterversammlung des Klinikums, wurde abgewählt. Was wünschen Sie seinem Nachfolger Torsten Warnecke?
Ich wünsche ihm, dass er den Mut hat, den eingeschlagenen strategischen Weg weiter konsequent zu verfolgen. Und ich wünsche ihm die Kraft, das Urproblem dieses Landkreises anzugehen ...
... das worin besteht?
Das Urproblem dieses Kreises ist, dass er noch kein Landkreis ist. Die Menschen in beiden Teilen – Rotenburg und Bad Hersfeld – wurden zwar kommunalpolitisch zusammengeführt, viele denken in den Herzen aber noch nicht einheitlich. Und dieses separatistische Denken macht eine einheitliche, medizinische Versorgung eines Landkreises extrem schwierig. Ich glaube auch, dass das die größte Gefahr für unser Unternehmen ist, dass der Veränderungsprozess ins Stocken gerät, dass man nochmal anfängt, darüber nachzudenken, Alternativen zu prüfen und dass Irrlichter zum Leuchtfeuer werden könnten. Für das Klinikum gibt es keinen anderen Weg als eine Zusammenlegung. Das wurde ausgiebigst diskutiert und durch alle Instanzen geprüft. Alles, was jetzt eine Verzögerung bringt, gefährdet das gesamte Unternehmen.
Was wünschen Sie sich vom neuen Landrat?
Ich wünsche mir eine schnelle und nachhaltige Umsetzung des Konzepts, damit Sicherheit und Klarheit in dieses Unternehmen kommen und so der Verunsicherungsprozess zwischen den Standorten minimiert wird.
Die dritte Corona-Welle ebbt langsam ab. Wenn Sie die vergangenen fast 15 Pandemie-Monate mal Revue passieren lassen: Was hätten Sie sich von der Politik besser gewünscht?
Grundsätzlich hat die Pandemie aufgezeigt, wo unsere Schwächen liegen. Die Politik hat, auch wenn man vielleicht das eine oder andere rückblickend anders entscheiden würde, insgesamt einen guten Job gemacht. Eines dürfen wir nicht vergessen: Wer Entscheidungen trifft, muss sie, und das gilt für die Corona-Pandemie insbesonders, aufgrund unvollständiger Informationen treffen. So eine Situation hatten wir ja auch noch nicht.
Sie sprachen eben davon, dass Corona Schwächen aufgezeigt habe. Welche Schwächen sind das?
Wir haben eine große Infrastruktur, aber kein Pflegepersonal. Man braucht nicht Betten zählen, die theoretisch verfügbar sind, wenn wir sie nicht nutzen können, weil Personal fehlt. Und wenn wir ehrlich sind, hat sich auch gezeigt, dass wir alle auf so eine Pandemie völlig unvorbereitet waren.
Wissenschaftler haben stets früh vor einer zweiten und einer dritten Welle gewarnt. Kritiker sagen, die Politik habe oft zu spät reagiert. Sehen Sie das auch so?
Die Wissenschaftler haben es ja auch relativ einfach. Sie können sich auf ihre Rechenmodelle berufen. Die Politik aber muss unterschiedliche Interessen abwägen und kann nicht nur rein auf Rechenmodellen argumentieren. Es gibt ja nicht nur Virologen, sondern es müssen auch viele andere Aspekte berücksichtigt werden. Ja, es wurde vielleicht manchmal ein bisschen spät reagiert, aber die Lage war beherrschbar.
Apropos beherrschbar: Wichtigstes Ziel der pandemiebedingten Einschränkungen sei es, hieß es immer, dass das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Wie schlimm war es bislang tatsächlich im Klinikum?
Es war schon schlimm. Wenn wir 50 oder 60 Prozent unserer Intensivkapazitäten mit Covid-Patienten belegt haben, dann ist das eine gewaltige Herausforderung. Wir haben ja auch noch andere Patienten, die versorgt werden müssen. Wir haben priorisiert, nicht dringende Eingriffe verschoben – das ist natürlich etwas, was aus medizinischer Sicht nicht wünschenswert ist. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Arbeit unter Corona-Bedingungen eine andere ist als unter Normalbedingungen. Dass es irgendwann zu einer gewissen Erschöpfung kommt, ist zu erwarten. Es ist ja auch nicht so, dass die Menschen im Krankenhaus vor der Pandemie schon unter einfachen Arbeitsbedingungen gearbeitet hätten – und jetzt halt doppelt, vor allem auf den Intensivstationen, in der Notaufnahme und auf den Covid-Stationen.
Hatten Sie, bevor Sie geimpft worden sind, Angst sich anzustecken?
Nein. Als Arzt ist man gewohnt, mit Risiken umzugehen. Man muss sich schützen, so gut es geht. Es kann immer etwas passieren.
War Ihnen eigentlich immer bewusst, dass Medizin Grenzen hat?
Ja. Der Tod gehört für einen Mediziner zwangsläufig mit dazu. Ich kämpfe ja nicht gegen den Tod, sondern für ein qualitativ gutes Leben. Was die Sache aber schwieriger macht, ist, wenn der Arzt triagieren, also entscheiden muss, wer sterben muss und wer weiterleben darf. Das ist eine Situation, die kein Mediziner gelehrt bekommt, weil wir hierzulande so viele Ressourcen haben, dass wir normalerweise allen immer helfen können. Zum Glück sind wir während der Pandemie nicht in diese Situation gekommen. In anderen Ländern sieht das leider anders aus.
Die Pandemie überdeckt derzeit vieles – etwa die grundlegenden Probleme in Krankenhäusern. Viele Kliniken, auch das Klinikum Hersfeld-Rotenburg, sind chronisch unterfinanziert. Was stimmt Sie optimistisch, dass sich das nach der Corona-Zeit ändert?
Fest steht, dass wir danach nicht mehr Geld haben werden als vor der Coronakrise. Die Kassen sind dann erstmal leer. Also müssen wir überlegen, wie man Geld sparen kann. Und deswegen befürchte ich, dass die Bedingungen für Krankenhäuser eher schlechter als besser werden. Selbst wenn wir mehr Geld ins System geben – die Pflegekräfte fehlen weiterhin. Und die werden wir uns auch nicht kaufen können. Meine Hoffnung besteht allerdings darin, dass man das Übel endlich an der Wurzel greift und Nägel mit Köpfen macht.
Was ist denn das größte Übel?
Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll: Wir brauchen endlich flächendeckend regionale Versorgungskonzepte, eine Abschaffung der sektoralen Trennung und eine ausreichende Finanzierung. Dann stellt sich die Frage, warum Krankenhäuser betriebswirtschaftlich organisiert sein müssen. Das führt doch dazu, dass sie das machen, was Geld bringt und nicht das, was volkswirtschaftlich und medizinisch sinnvoll wäre. Darüber hinaus haben wir eine katastrophale Digitalisierung. In den Krankenhäusern befinden wir uns da teilweise noch im Mittelalter. Und ja, wir haben auch zu viele Krankenhäuser in Deutschland. Das sind aber alles Fragen, die nicht ein Landkreis alleine beantworten kann. Die Antworten müssen aus Wiesbaden und vor allem aus Berlin kommen. Dann wären wir auf Dauer auch für die nächste Pandemie gewappnet.
Wie optimistisch sind Sie, dass sich grundlegend etwas an der Krankenhauspolitik ändert?
Was wir insgesamt bräuchten, ist genau das Wort, das Sie in der Zeitung immer im Zusammenhang mit den Umstrukturierungen im Klinikum verwendet haben: einen Radikalumbau. Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, macht man sich mit Radikalumbauten nicht gerade beliebt. Wer so etwas ankündigt, wird als Politiker auch nicht unbedingt wiedergewählt. Insofern glaube ich, dass es schwer werden wird, das alles umzusetzen.
Als Sie bekannt gegeben haben, dass Sie das Klinikum verlassen, sagten Sie, Sie gingen „nicht im Groll“ und Ihre Entscheidung habe auch nichts mit dem Ausgang der Kommunalwahl zu tun. Warum gehen Sie dann?
Weil nun der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Die grundlegende strategische Ausrichtung dieses Hauses ist vollzogen. Es gibt eine Perspektive. Hinzu kommt, dass die Pandemie abebbt. Ich habe mir die Frage gestellt, ob ich diesen Weg weitergehen und noch zehn Jahre hier bleiben, oder ob ich wieder heimatnah zurück nach Bayern gehen und mich einer neuen Aufgabe widmen möchte.
Wie geht’s für Sie jetzt weiter?
Ich werde mich weiter für Strukturveränderungen in Krankenhäusern und für eine Verbesserung der Versorgungssituation einsetzen, allerdings auf der anderen Seite – und zwar auf der Seite der Krankenkassen. (Quelle:HZ_Foto,Text:Sebastian Schaffner)
Hier finden Sie den Bericht aus der Hersfelder Zeitung vom 26.05.2021